Der Weg durch die Nacht, 2000, Isographenzeichnung
Der Weg durch die Nacht, 2000, Isographenzeichnung

Über Vorurteile und die Verantwortung des Therapeuten

Es gibt keine Wertneutralität.

Empathie und eine vorbehaltlose Annahme der menschlichen Person sind für einen guten Psychotherapeuten grundlegende Voraussetzungen.

Der Therapeut muss die Sache des Patienten zu seiner eigenen Sache machen, und zwar im Sinne der psychischen Gesundheit. Das bedeutet aber gerade nicht, dass ein Therapeut keine eigenen Werte haben oder diese, in gegebenen Kontexten nicht äußern dürfe. Es sollte sogar das genaue Gegenteil der Fall sein. Ein Therapeut muss eigene Werte und Ansichten haben, wenn er diese gewissenhaft durchdacht hat und begründen kann, und er muss natürlich seinerseits für Kritik offen sein. Sicher sollte er mit seiner Meinung nicht hausieren gehen oder andere bekehren wollen. Aber ein Therapeut, der keine eigenen, gut begründeten Ansichten und Werte hat, ist kein guter Therapeut, dem sich Patienten gerne anvertrauen. Patienten fordern vielmehr, dass der Therapeut ihnen eine Richtung für ihr weiteres Leben weisen und sie auf Fehlhaltungen aufmerksam machen kann. Sie verlangen nicht nur, dass ihnen zugunsten irgendeiner zeitgeistlich vorgeschriebenen und vorgeblich harmonischen Gruppenakzeptanz lediglich gut zugeredet wird oder sie in ihren bisherigen Ansichten nur „wertneutral“ bestärkt werden. Patienten, denen es nur um eine Bestätigung bisheriger Lebenshaltungen geht, eignen sich nicht für eine Psychotherapie. Psychotherapie ist kein Selbstbedienungsladen. Daher ist für einen guten Psychotherapeuten der sokratische Dialog die Methode der Wahl. Auch der sokratische Dialog ist nicht wertneutral, denn Wertneutralität ist unmöglich. Der sokratische Dialog soll dazu befähigen, eigene Ansichten zu hinterfragen, was natürlich die Werte des Therapeuten miteinschließt. Der sokratische Dialog ist eine Methode des selbständigen Denkens, der zu eigenen Einsichten und Erkenntnissen führt. Es ist ein Missbrauch therapeutischer Kompetenz, wenn Patienten in vorgefassten Entschlüssen angeblich wertneutral bestärkt werden. Eine vorgeblich wertneutrale Zustimmung, was zweifelhafte Entschlüsse angeht, durch den Therapeuten bedeutet in den Augen des Patienten deren vorbehaltlose Übernahme durch den Therapeuten und eine klare Zusage und Bekräftigung derselben. Damit übernimmt der Therapeut die volle und ungeteilte Verantwortung für die Werte und Entschlüsse des Patienten. Wenn etwa eine Psychologin – vorgeblich wertneutral – einen ca. zwei Meter hohen männlichen Patienten mit kantigen Gesichtszügen, der sich in eine Frau umwandeln lassen möchte, weil er seine unerreichbare Geliebte introjiziert hat, in seinem Entschluss bestärkt, dann ist das nicht wertneutral (welches auch niemals sein kann), sondern bedeutet Beihilfe zu einer Tat, die möglicherweise mit dem tödlichen Ausgang des Suizids gekoppelt ist.