Wasserspeier, 1976, Kugelschreiberzeichnung auf Postkarte
Wasserspeier, 1976, Kugelschreiberzeichnung auf Postkarte

Eine Verordnung

Eine Gesellschaft, die ohne spirituelle Werte in materiellem Wohlstand aufgewachsen ist, eignet sich vortrefflich zu jeder Form der Lüge und Tyrannei.

Man stelle sich folgendes Szenarium in einem fiktiven Staat vor, das in Anbetracht der gegenwärtigen Ereignisse gar nicht so unwahrscheinlich sein dürfte:

Eines Tages ereilte die älteren Bürger eines Staates per Sendschreiben die folgende Nachricht:

„Sehr geehrte Staatsmitgliederinnen und -mitglieder,
hiermit wird jeder Bürger über sechzig Jahre aufgefordert, sich zu vereinbarter Zeit einen Zementblock an die Füße zu hängen und in den nächstgelegenen größeren Fluss zu springen. Gedulden Sie sich bis dahin bitte ein wenig! Es wird noch im Einzelnen sichergestellt werden müssen, welcher größere Fluss pro Landkreis für Sammelstellen ausgesucht wird. Um einen ordnungsgemäßen Ablauf der Prozedur unter Polizei- und Militäreinsatz brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen! Es wird alles zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ablaufen, Ein reibungsloses Procedere ist garantiert. Die Regierung sieht sich zu dieser Maßnahme aufgrund der drohenden Überbevölkerung und im Namen der Nächstenliebe und des Gemeinwohls veranlasst.
Da Sie nun, wie uns bekannt geworden ist und Ihr Geburtsdatum bezeugt, bereits das sechzigste Lebensjahr überschritten haben, ist es Ihre bürgerliche Pflicht, sich bei den eingerichteten Sammelstellen freiwillig zu melden. Der Gesundheitsminister persönlich appelliert an Ihre solidarische Vernunft und Ihr soziales Gewissen!
Eines freilich muss Ihnen eingeschärft werden: Wer der Verordnung nicht Folge leistet, muss als unsozial, unsolidarisch und als gedankenloser Querdenker gelten. Möge jeder, der sich weigert, als schäbiger Menschenverächter und gewissenloser Sozialschänder gesellschaftlich geächtet werden!
Gezeichnet: Ihre Rentenversicherung in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation!“

Sofort machte sich eine große sorgenvolle Unruhe unter der Bevölkerung breit, insbesondere innerhalb der angesprochenen Altersklasse, während die Jugendlichen die Sache aufgrund ihres mangelhaften Geschichtsunterrichtes durchaus guthießen, vor allem dann, wenn sie, wie in den meisten Fällen, aufgrund der Scheidung der Eltern, keinen Kontakt zu ihren Großeltern hatten. Die Jugendlichen jubelten förmlich über die bevorstehende sachgerechte Beseitigung der altgedienten Grufties. Auf Demonstrationen für das Regierungsvorhaben skandierten sie in Sprechgesängen:

„Lebst du nahe an der Gruft:
Spring, sonst stehst du da als Schuft!
An den Füßen der Zement
macht mit dir ein selig End!“

Eine Vielzahl der Betroffenen aber erkundigte sich ängstlich beim Regierungsvorstand und dem Verfassungsgericht, ob sie sich ein ärztliches Attest darüber ausstellen lassen dürften, dass sie nicht springen könnten. Sie erhielten zunächst zur Antwort, das hätten die Gesundheitsämter zu entscheiden. Und so richteten sie ihr Anliegen an das jeweilige Gesundheitsamt. Sie erhielten die Auskunft, dass sie dazu eine Bescheinigung über eine Parkinsonerkrankung, die ihre Bewegungsfähigkeit einschränke, benötigten. Aber selbst in diesem unerwünschten Falle stünden ihnen an den vereinbarten Sammelstellen genügend Polizei und Militär hilfreich zur Seite, um die angestrebte Prozedur erfolgreich durchzuführen. „Wir danken Ihnen für Ihre solidarische Freiwilligkeit“, fügten die Gesundheitsämter noch hinzu, „und wünschen Ihnen einen erfolgreichen Sprung!“
Zwei Drittel derer aber, die sich für ältlich hielten, rührten zu Hause nach sachverständiger Anweisung ihren Zementblock an und ließen sich per Sanka zur bezeichneten Sammelstelle am jeweiligen Flussufer abholen, wo sie zitternd vor Unruhe, aber in sozialer Ergebenheit, der Dinge harrten, die da kommen mochten.

Was sagt uns das über die Bevölkerung eines solchen Staates?