Richard Oliver Schulz sitzt auf einem Baumstamm

Über das Wesen des Witzes

Das Wesen des Witzes liegt in der aufleuchtenden Erkenntnis eines Widerspruches.

In seiner Schrift „Zur Theorie des Lächerlichen“ hat Arthur Schopenhauer versucht, das Wesen des Witzes herauszuarbeiten.

Nach seiner Ansicht zeichnet ein Witz sich dadurch aus, dass in ihm zwei inkongruente Aspekte unter denselben Begriff gefasst werden. Darin besteht tatsächlich ein wesentlicher Aspekt des Witzes. Es ist aber weniger so, wie Schopenhauer ausführt, dass eine widersprüchliche Vorstellung unter einen allgemeineren, abstrakten Begriff subsumiert würde, sondern es handelt sich tatsächlich um zwei verschiedene inkongruente oder einander auch gänzlich entgegengesetzte Vorstellungsbilder oder Begriffe, die sich nur in einem oder wenigen Aspekten ähneln, aber unter einem anderen Begriff so zusammengefasst werden, als wären sie vergleichbar. Dabei ist die Pointe des Witzes umso treffender, je größer der Gegensatz zwischen den konkurrierenden Vorstellungen ist, die unter den gemeinsamen Begriff oder manchmal auch nur unter ein ähnlich lautendes Wort subsumiert werden. Besonders wichtig sind dabei aber auch die im Witz enthaltenen Nebenaussagen. Ein Beispiel wäre der Autofahrer, der in den Radio-Nachrichten hört: „Achtung, Achtung, auf der Autobahn X ist ein Geisterfahrer unterwegs“, und ganz erschrocken ausruft: „Was? Nur ein Geisterfahrer? Tausende!“ Hier wird keineswegs eine konkrete Vorstellung unpassender Weise unter einen abstrakten Begriff subsumiert, sondern ein und dieselbe Situation auf ganz entgegengesetzte Weise aufgefasst. Der Geisterfahrer hat hier denselben Begriff von einem Geisterfahrer wie jeder andere, erkennt sich aber nicht selbst darin, sondern hält alle anderen Autofahrer, die er beobachtet, außer sich selbst, für Geisterfahrer. Die mangelnde Selbsterkenntnis, die sich hier in dem Ausruf des Geisterfahrers offenbart, ist hier die eigentliche Pointe des Witzes. Hier werden also zwei entgegensetzte Deutungen derselben Beobachtung unter demselben Begriff gegenübergestellt, von denen nur eine die richtige ist. Der gemeinsame Begriff ist hier der des Geisterfahrers. In der Bedeutung dieses Begriffes sind sich beide Parteien einig. Der springende Punkt besteht nur darin, wer hier der wirkliche Geisterfahrer ist, also in die falsche Richtung fährt. Und dieser wirkliche Geisterfahrer ist ohne Selbsterkenntnis.
Somit haben gute Witze neben der Inkongruenz von Begriffen und Vorstellungen auch immer eine nicht immer sofort erkennbare Nebenbedeutung, die dennoch ganz zentral für den Witz und seine Funktion ist. Es sind daher nicht die begrifflichen Inkongruenzen allein, die einen Witz auszeichnen. Eine bedeutende Funktion nehmen innerhalb des Witzes vielmehr die sozialen Interaktionen der beteiligten Personen und ihre Vorstellungen ein, über die ihre Aussprüche und Handlungen Aufschluss geben. Je mehr gerade diese in den Fokus des Witzes gerückt werden und je mehr Lebensweisheit in ihnen verborgen liegt, desto besser ist auch der Witz. Eine bloße begriffliche Inkongruenz ohne aufleuchtende Lebensweisheit wird nicht zu Unrecht als flach empfunden. So sagt der von Schopenhauer selbst angeführte Witz, in dem ein Trauzeuge seine Ansprache mit dem Schiller-Zitat beendet: „Ich sei, erlaubt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte“, nicht allein eine Inkongruenz in unpassendem Kontext, sondern auch etwas über die verschwiegenen Absichten des Trauzeugen aus.
Die ebenfalls von Schopenhauer angeführte witzige Geschichte, in der zwei Löwen, in denselben Käfig gesperrt, einander auffressen, so dass am Morgen nur noch die beiden Schwänze übrigbleiben, sagt im Grunde nicht allein etwas über den hier inkongruent angewendeten Begriff des Übrigbleibens von Nahrungsresten unter der Bedingung, dass zwei sich gegenseitig auffressen, aus, sondern auch über die Aufmerksamkeit erheischenden Absichten des Erzählers selbst, der sich durch solche Berichte als Aufschneider oder Possenreißer verrät.
Die Erzählungen des Lügenbarons Münchhausen berichten sämtlich nur solche Unmöglichkeiten, die durch die Anwendung von scheinbar selbstverständlichen Begriffen auf unstimmige Situationen ohne Beachtung des Kontextes zustande kommen. Sie benennen aber zugleich Kriterien, an denen man Lügen oder wissenschaftliche Fehlschlüsse erkennen kann.
Der stets zu Doppelsinnigkeiten aufgelegte Fritz Heidegger, der Bruder des Philosophen Martin Heidegger, von Beruf Bankkaufmann, bezeichnete sich selbst gerne als „Scheinwerfer“. Damit brachte er gleich einen dreifachen Sinn zum Ausdruck: Einmal, dass der Begriff „Scheinwerfer“ zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, nämlich den des Bankkaufmanns und den des Leuchtturms, zum anderen, dass Geldscheine eben nur als bloßer Schein ohne Eigenwert zu gelten haben und zum dritten, dass Fritz Heidegger auch als Bankkaufmann durchaus selbst in der Lage war, einen Lichtschein auf bestimmte Wahrheiten zu werfen, vielleicht besser als sein Bruder, der Philosoph.
Ich möchte einen weiteren Witz anführen, auf den ich selbst gekommen bin: Die Antwort auf die Frage nach dem „Hitler-Paradox“: „Er hatte keinen Führerschein“, zeigt nicht allein die Inkongruenz zwischen dem Fahrer eines PKWs und dem Führer einer ganzen Nation und ist nicht allein schon deswegen witzig, sondern sie zeigt auch an, dass Hitler als ein Mann, der nicht einmal einen PKW fahren konnte, was heute für die meisten selbstverständlich ist, in seinem Fall noch weniger geeignet war, ein ganzes Volk zu führen.
Das Wort „Witz“ ist etymologisch mit „wisdom“, „wit“, „esprit“, „Sprit“, „Spirit“, Spiritus“ oder auch mit dem deutschen Wort „Sinn“ verwandt. Es deutet an, dass im Witz ein verborgener Sinn oder eine versteckte Weisheit aufleuchtet. Je tiefer und geistreicher dieser Sinn oder diese Weisheit, desto besser auch der Witz. In der Erkenntnis der Pointe kommt es zu einem Aha-Erlebnis, das dazu führt, dass wir uns über die im Witz geschilderte Situation innerlich erheben. Dies führt zu der Reaktion des von Spannungen befreienden Lachens, das nur dem Menschen eigen ist. Nur bei den höchsten Primaten im Tierreich, bei den Schimpansen, ist eine analoge Form des Lachens bei Gekitzelt-Werden zu beobachten.