Licht und Dunkel, 1986, Ölpastell
Licht und Dunkel, 1986, Ölpastell

Zu Wahn und Schuldfähigkeit

Wahnsinn befreit nicht immer von Schuld.

In den Gewohnheiten des natürlichen Menschen, in seinem „Fleisch“, wohnt nichts Gutes, aber der natürliche Mensch ist – ohne geistige Inspiration aus einer untermenschlichen Sphäre – nicht böse genug, um Werke großer Zerstörungskraft hervorzubringen.

Mörderische Taten, die bewusst an unschuldigen Wesen oder Menschen begangen werden, gelingen dem natürlichen Menschen nur dann, wenn er dabei unter einem geistigen Oberkommando steht, dem er freiwillig und bedingungslos gehorcht, denn solche Taten erfordern den ganzen persönlichen Einsatz und können für manche dieser Täter auch in moralischer Hinsicht sehr anstrengend sein. Aufgrund dieser Tatsache setzen sich Menschen mit dieser Zielsetzung oftmals bewusst unter Drogen, um ihre mörderischen Attentate überhaupt ausführen zu können.
Dabei ist es gleichgültig, ob sie nun Stimmen, die sie zum Mord auffordern und denen sie Glauben schenken, oder ob sie nach Maßgabe einer bestimmten Ideologie handeln, schuldig sind sie in jedem Fall. Der Glaube vieler juristisch oder psychiatrisch geschulter Fachleute, dass eine Wahneingebung einen Mörder immer schuldunfähig oder zumindest eingeschränkt schuldfähig mache, ist ein zeitgenössisches Vorurteil, das zu völlig verkehrten Ansichten der Sachlage führt. Die grundlegende Voraussetzung der Schuldfähigkeit besteht darin, dass der Täter bewusst unschuldige Menschen und Wesen im Sinne seiner Eingebungen oder Ideologien missbraucht und nachhaltig schädigt. Dabei ist der Anlass, der den Ausschlag gibt, ob es akustische Halluzinationen oder inhumane Ideologien sind, für eine derartige moralische bzw. antimoralische Grundeinstellung sekundär und trägt zur Lösung der Schuldfrage nichts bei. Von einer verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit kann nur dann gesprochen werden, wenn eine völlige Verkennung der Situation durch wahnhafte Beeinträchtigung vorliegt. Wenn ein Mann, der unter einem Capgras-Syndrom leidet, seine Eltern mit einem Beil erschlägt, weil er sie für getarnte Außerirdische hält, so ist er sicherlich vermindert schuldfähig, da sein Motiv der Selbstverteidigung in keinem Verhältnis zu dem nicht gewollten Resultat seiner Handlung steht. Man könnte allerdings fragen, ob denn die Ermordung von Außerirdischen, selbst wenn sie als Bedrohung empfunden werden, die richtige Art der Selbstverteidigung sein könne. Zumindest wurde hier vom Täter die grausame Tötung als eine adäquate Form der Selbstverteidigung betrachtet, sie gehörte also grundsätzlich zum moralischen Verhaltensrepertoire des Erkrankten, wenn auch nur unter besonderen Stressbedingungen. Die Frage nach der grundsätzlichen Adäquatheit von Tötungsakten zur Selbst- oder Fremdverteidigung, auch unter der Voraussetzung, dass die Kontextbedingungen richtig eingeschätzt worden wären, stellt sich noch deutlicher in einem weiteren psychiatrischen Fall: Ein schizophrener Patient stach auf offener Straße einen Mann mit roter Krawatte nieder, weil eine Stimme ihm sagte, dass man gefährliche Illuminaten an ihrer roten Krawatte erkenne. Der Mann wurde aufgrund seines Wahnes für schuldunfähig erklärt. Hier stellt sich aber die Frage, ob es denn grundsätzlich rechtens sein könne, Menschen zu erstechen, nur weil man sie für Illuminaten hält. Wer gab dem Mann einen so kräftigen Impuls, seine offenbar bestehende Grundeinstellung, man dürfe gefährliche Personen grundsätzlich töten, statt zur Polizei zu gehen, in die Tat umzusetzen? Offenbar der wahnbedingte, mit massiver Angst verbundene innere Stress. Allerdings ist es aber auch für einen Wahnkranken durchaus möglich, sich von seinen Stimmen innerlich zu distanzieren, vor allem dann, wenn deren Befehle mit seinen moralischen Grundsätzen gar nicht übereinstimmen. Wer die Anweisungen seiner Stimmen befolgt, muss ihnen gegenüber eine gewisse Sympathie aufbringen oder sich zumindest durch ihre Drohungen einschüchtern lassen, was aber auch nur dann der Fall sein kann, wenn die Anordnungen grundsätzlich mit der Moral des Hörers in Einklang zu bringen oder gegen andere Güter abzuwägen sind. Ein weiterer Aspekt, den man bei der Schuldfrage beachten muss, ist die Steuerungsfähigkeit während der Tat. Diese kann gewiss verringert sein, fällt aber für einen Schuldspruch nur dann ins Gewicht, wenn das Ergebnis der Handlung gegen die Willensgrundsätze stünde. Der Student, der im 16. Jahrhundert im Duell einen Kommilitonen ersticht und in ein Kloster flüchten muss, hat das natürlich nicht gewollt, er wollte ihm nur einen Denkzettel verpassen, aber er akzeptierte immerhin das Risiko einer schweren Verletzung. Der Asylsuchende, der im Jahr 2019 eine Mutter mit ihrem Kind vor einen einfahrenden Zug stößt und dasselbe gleich darauf bei einer älteren Frau versucht, hat dies vielleicht auf der Grundlage eines Wahns getan, handelte jedoch in gezielter Tötungsabsicht, was zeigt, dass er grundsätzlich unter gegebenen Umständen bereit war, eben dies zu tun. Sein Wille war, wenn auch vielleicht durch einen Vorwand verführt, ein mörderischer. Dasselbe gilt für den Amokfahrer von Trier im Dezember 2020, der mit einem geliehenen Auto wahllos Menschen ermordete. Die innere Stimme, die ihm wahrscheinlich „befahl“, war nur ein Alibi mutwilliger und bösartiger Machtausübung zur Kompensation seiner Minderwertigkeitsgefühle und inneren Leere. Die innere Stimme, wenn er sie denn hatte, gab ihm einen Auftrag, sie erwählte ihn, er fühlte sich einmal im Leben innerlich stark, freilich nur auf Kosten möglichst vieler Menschenleben, was er akzeptierte. Sein Grinsen nach der Tat, seine bedeutungstief sein sollende Bemerkung beim polizeilichen Verhör: „Er spricht“, verweist auf einen inneren Auftraggeber: Den Satan, den Menschenmörder von Anfang an, den er für seinen Gott hielt. Er ist in jedem Fall moralisch schuldig. Das Problem ist nur, dass sich ein Mensch innerhalb weniger Sekunden so schuldig machen kann, dass er diese Schuld, auf sich allein gestellt, nicht in Ewigkeiten wird abtragen können.