Jesusknabe über Judäa, 1998, Ölpastell
Jesusknabe über Judäa, 1998, Ölpastell

Vom größten Leiden

Das größte Leiden ist ein Liebesleiden.

Das Leiden Jesu, des wahren Messias, erfüllte sich nicht erst am Kreuz, es begleitete ihn sein ganzes Leben.

Im Kreuzestod fand es nur seinen größten, sichtbaren Ausdruck.
Alle seine Darstellungen in spektakulären Filmen, die bisher versuchten, etwas von diesem Leiden einzufangen, sind absolut lächerlich und sogar blasphemisch zu nennen verglichen mit der brutalen Wirklichkeit. Die Visionen der Birgitta von Schweden, die Matthias Grünewald seinen Bildern zugrunde legte, oder die Visionen der hellsichtigen Nonne Anna Katharina Emmerich, die von dem Dichter Clemens Brentano niedergeschrieben wurden, geben einen Einblick in das Entsetzliche dieser Qualen, die Jesus bei vollem Bewusstsein ertragen musste. Der wissenschaftliche Forscher, der darum bemüht ist, seine Einsichten auf äußere Beweise zu gründen, sei darauf hingewiesen, dass sich die Ergebnisse der neueren Forschungen am Turiner Grabtuch in sämtlichen möglichen Details mit den Angaben der Anna Katharina Emmerich decken. Unmöglich hätte die Nonne aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auf natürlichem Wege Details in Erfahrung bringen können, die erst durch modernste Röntgenverfahren ans Tageslicht kamen. Der Regisseur und Schauspieler Mel Gibson hat in seinem spirituell wenig aussagekräftigen Sado-Maso-Werk „Die Passion Christi“ einige Details aus den Berichten Emmerichs übernommen, das meiste aber anders, nach eigenem Gutdünken und auch historisch durchaus falsch dargestellt. War nun aber das Erdulden körperlicher Qualen bei all ihrer Furchtbarkeit und Raffinesse schon die Grundessenz des Opfertodes Jesu? Keineswegs! Schauen wir zunächst, worin die größten körperlichen Schmerzen allgemein bestehen. Das körperliche Leiden ist dort am stärksten, wo es in seelisch-geistiges Leiden übergeht. Da wäre zunächst der brennende Durst zu nennen, den Jesus kurz vor seinem Tod bekundet, indem er spricht: „Mich dürstet!“ Damit drückte Jesus seinen brennenden Durst nach der liebenden Zuwendung der Menschen aus. Und kein Mann aus seinem Volk, sondern ein Heide, ein römischer Legionär, hatte Mitleid mit ihm und stillte den Durst aus seiner Feldflasche über einen Schwamm.
Zu nennen wäre auch das fast unmerkliche allmähliche Ersticken, das mit dem Kreuzestod verbunden ist und Angst- und Ohnmachtsanfälle auslöst. Neben dem dadurch hervorgerufenen Schwindel wird eine äußerst peinvoll erlebte Hilflosigkeit, eine qualvoll erlebte zunehmende Verdünnung des geistigen Ichs erzeugt, das unaufhörlich um seinen Bestand und gegen die Übermacht seiner frei flottierenden Gefühle, Gedanken und Erinnerungen ringt. Ähnlich ergeht es einem Gehängten, sofern der Tod nicht schnell genug eintritt. Er erlebt die völlige Ausdünnung seines Ichs gegenüber den sich aufdrängenden Bewusstseinsinhalten im langsamen Erstickungstod. Über diese Ausdünnung des Ichs und den damit verbundenen besonders schweren Todeskampf erlangte Jesus die Herrschaft, in dem Psalmengebet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Nachdem dann auch sein Durst durch die Hilfe des Soldaten gestillt war, erlangte er die Kraft zu seinem lauten Siegesschrei, bei dem der Vorhang im Tempel zerriss. Darauf befahl der sich in die Hände seines Vaters.
Das größte seelische Leiden besteht darin, von denen gehasst zu werden, die man liebt. Zu sehen, was in der Menschheit vor sich geht und welche Kräfte sie beherrschen, aber selbst nicht gesehen und gehört zu werden, zu erkennen, aber selbst nicht erkannt zu werden in dem, was man selbst erkannt hat und zu geben bereit ist, darin besteht das größte Leiden.
Dies zu durchleiden und doch den berechtigten Zorn zu überwinden, der gegen die Zumutung des höchstmöglichen menschen- und gottverachtenden Hasses in uns Menschen unwillkürlich aufflammen muss, darin bestand das eigentliche Opfer Jesu. Dadurch erzielte Jesus für jeden, der ihn als inneren Weg wählt, sich in ihn vertieft und liebend sich mit ihm verbindet, die Kraft, den „Zorn Gottes“, den Schutzwall zum Herzen des Vaters, zu überwinden und sich mit ihm zu vereinigen.