Die Zeitpflanze, 1982, Buntfarbstift
Die Zeitpflanze, 1982, Buntfarbstift

Über die Erfahrung von Gegenwart und Vergänglichkeit

Vergangenheit und Gegenwart bilden ein Kontinuum, das im Raum der Zukunft steht.

Gegenwart steht in der offenen Tiefe. Alle Zeit, wie wir sie kennen, scheint der Vergangenheit geweiht zu sein.

Die scheinbare Vergänglichkeit allen Seins ist der eigentliche existentielle Grund der tiefsten Verzweiflung, deren Menschen fähig sind. Denn die Erfahrung, dass alle menschlichen Unternehmungen auf Vergänglichkeit gegründet sind und infolge ihrer Vergänglichkeit scheinbar ins Nichts verschwinden, bringt einen Lebensausblick mit sich, dessen Unentrinnbarkeit so schwer auf der menschlichen Seele lastet, dass er alle Unternehmungen, alle Versuche der Selbst- und Fremdverwirklichung von vorn herein zum Scheitern verurteilen würde, sofern er der Weisheit letzter Schluss wäre. Die Vergänglichkeit scheint diejenige Instanz zu sein, die alles im Kern vernichtet und sinnlos macht. Wer sie für die letzte Instanz, das unausweichliche Schicksal aller Dinge hält, aus dem es kein Entkommen gibt, muss, ob er es will oder nicht, früher oder später zu einem Nihilisten werden, der sich angesichts des drohenden Nichts in seiner privaten Philosophie so gut wie möglich einrichtet, oder verzweifeln.
Nun tragen wir aber in uns die Gewissheit, dass die allgegenwärtige Vergänglichkeit, der wir ausgesetzt sind, nicht das letzte Wort haben kann, dass sie vielmehr auf einem permanenten Schein beruhen muss. Ohne diese innere Gewissheit könnten wir unser Dasein in dieser Welt gar nicht als vergänglich erkennen. Wir machen die Erfahrung, dass es noch eine andere Form der Zeit geben muss, die in der uns geläufigen verborgen liegt. Das Medium dieser Erfahrung ist die Erinnerung. Wenn wir dieser Erfahrung nachgehen, erkennen wir, dass die erlebten Inhalte unserer Taten nicht nur in einer physikalischen Dimension fortwirken, sondern in einer geistigen Welt als solche fortbestehen und in ihr einen eigenen Raum bilden, der mit der zum Raum gewordenen Zeit anderer Individuen auf unterschiedliche Weise verbunden sein kann. Es gibt also sehr wohl eine lebendige Zeit, die wie ein Raum vor unserem geistigen Auge ausgebreitet sein kann und daher auch real und überdauernd, unabhängig von unserer zeitweiligen Schau, existieren muss. Allein die Einengung unserer Sicht auf eine Tunnelperspektive – Augenblick genannt – lässt uns den größten Teil dieser Realität als „nicht mehr“ existierend erscheinen. Somit ist die physikalische Parameterzeit, die nur scheinbar den Aspekt der Dauer impliziert, in Wahrheit aber eine fortwährende Vernichtung zu beinhalten scheint, nur durch eine verengte geistige Perspektive bedingt, die dem Zusammenwirken verschiedener Schichten des Bewusstseins entspringt.