Steinbruch auf La Palma (2), 2002, Ölpastell auf Zeichenpappe
Steinbruch auf La Palma (2), 2002, Ölpastell

Über das Schauen des Sehenden und die Erkenntnis der Blinden

Die blinde Kombinatorik des Verstandes verfehlt die Wahrheit notorisch, so komplex sie auch agiert.

Sind wir in der Lage, die Wahrheit als Ganze zu erfassen? Müssen wir bei den Stückwerken unserer Begriffe stehenbleiben?

Oder bleiben wir auf ewig einem Wahrheitsrelativismus verhaftet? Die reine Verstandeskombinatorik ist, wie die Erfahrung uns zeigt, im Hinblick auf die Erfassung des Ganzen immer mit Irrtum behaftet. Man könnte das Erschließen eines Sachverhaltes durch die Kombination reiner Verstandesbegriffe mit dem Tasten eines Blinden vergleichen. Aber in uns wohnt die Sehnsucht, einmal das Ganze in all seinen Zusammenhängen zu erfassen und das tief empfundene Wissen, dass diese Sehnsucht berechtigt ist. Es ist das höchste Streben des Menschen zu einer unbezweifelbaren Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Unbezweifelbar kann diese Erkenntnis aber nur dann sein, wenn sich die Wahrheit uns als ein Ganzes offenbart. Diese Offenbarung der Wahrheit können wir mit einem Schauen gleichsetzen. Während die Erkenntnis durch den kombinierenden Verstand, der sich ein Bild des Ganzen aus Versatzstücken zusammensetzen muss, also dem Tasten eines Blinden gleicht, so gleicht die schauende, intuitive Erkenntnis eher dem sehenden Erfassen des Ganzen.
Die Fehlbarkeit der Schlussfolgerungen unseres Verstandes aus den Versatzstücken unserer sinnlichen Erkenntnis kommt exemplarisch in einer indischen Legende zum Ausdruck. In dieser versuchen drei Blinde sich ein Bild von einem Elefanten zu machen, den sie noch nie gesehen haben und der ihnen als Tiergattung noch nie beschrieben wurde. Der Erste ertastet das Ohr des Elefanten und beschreibt diesen als Palmwedel. Der Zweite ergreift den Rüssel und beschreibt den Elefanten als Schlange. Der Dritte umfasst eines seiner Beine und beschreibt sein Aussehen als Säule. Wer von den drei Blinden hat nun recht? Offenbar keiner. Und doch hat jeder von ihnen einen Teilaspekt der Wahrheit erfasst. Ist darum die Wahrheit als solche relativ? Mitnichten! Wer aber auf der aspektgebundenen, gleichsam parteilichen Sicht der Dinge beharrt, wird vollständig irren, weil er den großen Zusammenhang nicht begreift, den er aufdecken möchte. Man muss dabei, wie das Beispiel des Elefanten zeigt, nicht gleich an den großen Zusammenhang des Weltganzen denken. Die ganz bestimmte anschauliche Einheit eines Erkenntnisgegenstandes genügt. Die Blinden in unserer Legende irren schwer, weil sie auf ihrem jeweiligen isolierten Standpunkt beharren. Wie wäre es aber nun, wenn diese drei Blinden versuchten, ihre jeweils isolierte Teilerkenntnis untereinander auszutauschen und kombinatorisch zu einem Ganzen zusammenzufügen? Würden sie die Wahrheit treffen? Wir wollen das Gedankenexperiment wagen. Zu welchem Bild von einem Elefanten gelangten wir wohl, wenn wir die Teilansichten der Blinden für gleichberechtigt hielten und uns daraus unser persönliches Bild von der Wahrheit zusammenschustern wollten? Zu einer Säule, die von einer Schlange umwunden ist und oben einen Palmwedel trägt! Dies wäre dann das Bild der Blinden von einem Elefanten, welches sie in gleichsam ökumenischer Zusammenarbeit entworfen hätten. Was für ein armseliges, vollkommen irriges Bild! So steht es im übertragenen Sinne auch mit dem Versuch, aus den verschiedenen Facetten der Religionen eine Einheitsreligion zu basteln, die der geistigen und materiellen Wahrheit entsprechen soll. Allein das Schauen im Abstand und im Licht erfasst den ganzen Elefanten und welches Wunderwerk der Leibesorganisation und Vielgestaltigkeit entdecken wir in ihm, das wir uns zuvor nicht im Traum hätten ausmalen können! So steht es auch um die Wahrheit des Seienden und des Weltganzen. Gleichgültig, ob wir sie erkennen oder nicht: Sie ist Realität!