Reuiger Schächer in Rot, Buntfarbstiftzeichnung
Reuiger Schächer in Rot, Buntfarbstiftzeichnung

Zur Kant’schen Maxime moralischen Handelns

Jeder, der gegen die Grundsätze seiner Überzeugung handelt, trägt damit die volle Verantwortung für alle, die handeln wie er selbst.

Während meines Zivildienstes vor etwas über vierzig Jahren fragte mich einmal eine blinde, dreiundneunzigjährige Heimbewohnerin, warum ich den Wehrdienst verweigert habe.

Ich antwortete, dass ich nicht unschuldige Menschen töten wolle, die von ihrer Regierung zum Dienst mit der Waffe gezwungen wurden. Auch wolle ich mich nicht von einer Regierung unter dem Druck von Ermächtigungsgesetzen instrumentalisieren lassen. Und ich wolle die Freiheit haben, die Mittel und Waffen zur Selbst- und Fremdverteidigung selbst zu wählen. Aber vor allem handle ich nach dem Grundsatz: Wenn jeder die Teilnahme am Militär verweigern würde, dann gäbe es keine Kriege mehr! „Mein lieber Mann!“, rief da die alte Frau, „wie sind Sie naiv! So verhindert man doch keine Kriege!“ – „Das ist nicht naiv gedacht“, erwiderte ich, „das ist nur logisch! Natürlich weiß ich genau, dass die meisten Wehrfähigen auf der Welt nicht den Dienst an der Waffe verweigern würden. Aber indem ich selbst das tue, gebe ich meinem Wunsch Ausdruck, dass alle dies tun sollten, denn wenn dies geschähe, könnte keine Macht auf der Welt mehr Krieg führen.“ Die alte Frau war mit meiner Antwort nicht zufrieden. Sie hatte den Sinn meiner Rede nicht verstanden. Ich hatte – ohne mir damals deutlich darüber im Klaren zu sein – die Kant’sche Maxime zu meinem Leitsatz gemacht. Die Kant’sche Maxime lautet: „Handle so dass du den Grundsatz deines Handelns jederzeit zu einer allgemeinen Maxime erheben kannst, von der du wünschen solltest, dass sich jeder danach richte.“ Man sollte nicht vergessen, dass die Ethik Kants auf säkularisierten christlichen Grundsätzen beruht, die auch die Grundlage der Menschenrechte bildet. In dieser Ethik stehen die allgemeine Menschenliebe und die innere Freiheit des Menschen an erster Stelle. Daraus abgeleitet ergibt sich die Liebe zur ganzen Schöpfung. Dass der Mensch diese hochgesteckten Ideale aus eigener Kraft nicht erreichen kann, ist eine andere Sache. Tatsache ist, dass ohne die christlichen Grundlagen im Hintergrund den Menschenrechten jede Basis entzogen wäre, weil sie jederzeit umdefiniert werden könnten.
Die Kant’sche Maxime des Handelns ist ein praktischer christlicher Grundsatz, der vor allem dann zum Einsatz kommen sollte, wenn wir in Versuchung geraten, unter Druck und um gewisser Vorteile willen gegen unsere Überzeugung zu handeln. Man muss sich stets vor Augen halten, dass durch die Aufgabe der inneren Freiheit zur Vermeidung persönlicher Unannehmlichkeiten oder zugunsten äußerer Freiheiten am Ende auch die innere Freiheit verloren geht. Niemand kann sich vor dem höchsten Richter seines Gewissens damit herausreden, dass er sagt: „Ich habe gegen meine innere Überzeugung gehandelt und habe mich der Entscheidung einer Regierungsmacht über die Substanz meiner Person gefügt, weil beinahe alle das getan haben und ich mir deshalb mit der Befolgung meines Grundsatzes und meiner Einsicht keinen Erfolg ausgerechnet habe, wenn ich es selbst nicht tue. Ich hätte nur Nachteile davon gehabt und doch nichts bewirken können. Also habe ich die Handlung vorgezogen, die unter den gegebenen Umständen den größten Nutzen für mich und meine Angehörigen brachte!“ Wer so argumentiert, vergisst, dass er damit die volle Verantwortung für die Handlungsweise aller übernimmt, die ebenso handeln wie er und das für ihn offensichtlich falsche tun, ob sie nun aus Überzeugung oder gegen ihre Überzeugung handeln. Durch sein Verhalten unterstützt und bestärkt er nämlich nicht nur diejenigen, die aus Überzeugung das Falsche tun, sondern dient auch denjenigen zum Vorbild, die gegen ihre Überzeugung dasselbe tun. Außerdem sollte er bedenken, dass er dadurch auch Verrat an allen jenen übt, die für ihre Entscheidung, den richtigen Weg zu wählen, einstehen und die dadurch Verfolgung und Nachteile erleiden, weil die meisten mit der Masse gehen und das Falsche tun. Somit gilt der Grundsatz, dass jeder durch sein Verhalten zugleich für alle verantwortlich ist. Keiner ist nur ein austauschbares Rädchen im Getriebe der Welt. Nun wird es viele geben, die argumentieren: „Aus Nächstenliebe, zum Schutz unserer Angehörigen und Familien haben wir gegen unsere Überzeugung gehandelt und sind der Diktatur gefolgt.“
Diese Haltung ist nur zu verständlich. Aber am Ende wird unter der Herrschaft einer menschenverachtenden Diktatur auch der geringste Vorteil zu einem Fluch, der über viele Menschen kommt. Daran sollte man denken, bevor man glaubt die Zukunft zu kennen und Vorteile zu erwirken, wo es um den Verrat von Grundsatzentscheidungen geht.