Die Leugnung der Wahrheit ist gleich der Leugnung Gottes.
Ein grundlegender Versuch, die Bedeutung von „Wahrheit“ zu definieren, besteht darin, dass man sagt: „Wahrheit besteht in der Übereinstimmung einer Aussage mit Tatsachen, …
… die unabhängig von Geist und Bewusstsein existieren.“ Aber eigentlich ist dies keine Definition der Wahrheit, sondern die Definition einer wahren Aussage. Was eigentlich Wahrheit sei, bleibt dabei ungeklärt. Weiterhin irritiert die Formulierung „unabhängig von Geist und Bewusstsein“. Will man damit sagen, dass die Wahrheit etwas sei, das mit Geist und Bewusstsein nichts zu tun habe? Man könnte eine derart implizite Aussage in dieser Formulierung vermuten. Aber das wäre ein Vorurteil. Besser und klarer wäre es daher zu sagen: „unabhängig vom persönlichen Bewusstsein.“ Diese Aussage wäre unmissverständlich. Denn was ist Wahrheit? Wahrheit ist, wenn sie kein leerer Begriff sein soll, als den sie Sprachphilosophen verstehen, die Wirklichkeit in ihrem Ursprung, in ihrem inneren Grund. Das ist weit mehr als die bloße Übereinstimmung einer Behauptung mit einer Tatsache. Denn die letztere kann allenfalls für die Wahrheit der Tatsache bürgen. Über das Wesen der Tatsache selbst muss damit aber noch lange nichts gesagt sein.
Wenn wir die verschiedenen Tatsachen betrachten, denen wir in der Welt begegnen, können wir verschiedene Kategorien ausmachen: Wir begegnen sozialen, psychologischen, mentalen, biologischen, chemischen und physikalischen Tatsachen. Wir begegnen auch virtuellen Tatsachen, die Erzeugnisse unseres Geistes sind. Vertreter der philosophischen Richtung des „Neuen Realismus“ würden behaupten, dass es keinerlei innere Verbindung zwischen diesen verschiedenen Formen von Tatsachen gebe, dass es keine umfassende Welt, sondern nur kleine Welten gebe und dass die Wirklichkeit pluralistisch sei. Wer nun aber nicht wie diese philosophische Richtung eine umfassende innere Verbindung zwischen den aufgeführten Aspekten unserer Wirklichkeit leugnet, sondern an eine umfassende Wirklichkeit glaubt, in der eine sinnvolle Ordnung und eine innere Verbindung zwischen allen ihren Aspekten besteht, wird früher oder später zu dem Schluss kommen müssen, dass es eine zugrundeliegende Wahrheit geben muss, die allgemeingültig ist und die letzten Endes in geistiger, formender und gestaltender Kraft besteht. Diese Erkenntnis ist nicht durch einen Analogieschluss bedingt, wie der moderne Zeitgeist annimmt, ohne den Phänomenen der Bewusstseinsbildung auf den Grund zu gehen, sondern eine in einer menschlichen, und ich möchte sagen, überhaupt animalischen Grunderfahrung begründet. Schon der Säugling erlebt in den Gesichtern der Menschen, denen er begegnet, und in ihrem Ausdruck die geistige Kraft, die sie gestaltet, und er irrt selten in dem, was sie ihm sagen. Alle Kraft geht jedoch von einem Gegenstand und alle geistige Kraft von einem Wesen aus. Und dieses Wesen, das sich aber nicht im Umfang unserer erfahrenen und angenommenen Wirklichkeit in all ihren Aspekten erschöpft, nennen wir Gott, den Umfang der Wirklichkeit aber seine Schöpfung.
Nun begegnen wir der Schwierigkeit, dass es unterschiedliche Identitäten und unterschiedliche Ichs gibt, die gerade in dem, was ihre spezifische Identität ausmacht, unabhängig voneinander sind. Darin begründet sich ihre Freiheit – oder eine relative Freiheit, sofern es sich um das Leibes-Selbst von Tieren handelt. Wir können Empfindungen teilen, aber nicht Identitäten. Dies ist letztlich auch der Grund, warum der Neue Realismus einen Gott als Urheber einer einheitlichen Welt ausschließen zu können glaubt, indem er mindestens ebenso viele kleine Welten wie Identitäten annimmt. Er leugnet ein Ur-Ich als absolutes dialogisches Du des Menschen und hat daher die Herrschaft über die Wahrheit auf den einzelnen Menschen verlagert.