Strandschlafende, 2008, Acryl auf Zeichenpappe
Strandschlafende, 2008, Acryl auf Zeichenpappe

Über die selbstverschuldete Unmündigkeit

Je tiefer der Seelenschlaf, in den die Menschen versenkt sind, desto gefährlicher auch die Ungeheuer, die sich aus dem Meer dieses Schlafes erheben.

Die Versuche böser Mächte, alle Lebenskeime, alle Impulse eines in Freiheit entschiedenen Daseins zu unterdrücken und in den Staub zu treten, ereignen sich in Zyklen.

Nach jedem Zyklus ihres Ermächtigungsstrebens, zunächst in feinster, verführerischer Subtilität, in allmählicher Gewohnheit an den Zwang und schließlich in offener Gewalt, erfolgt eine Ruhephase, die nach der Zerschlagung der bösen Machtfaktoren und ihrer Helfershelfer zunächst mit hohen Idealen und Elan beginnt. Im Laufe dieser Ruhephase aber schlafen die Menschen allmählich geistig wieder ein und halten ihr scheinbar friedlich dahinplätscherndes Leben für den Normalzustand, den Einbruch böser Mächte und ihrer Ermächtigung aber für die Ausnahme. Nach der Meinung dieser zeitgeistlich Normalen konzentriert sich das Böse in gewissen exemplarischen Personen, die als pathologische Ausnahmeerscheinungen betrachtet und immer als „krank“ bezeichnet werden, als trügen sie keine Verantwortung für ihre Bosheit. Selbstverschuldete moralische „Krankheit“ wird dabei fast immer mit unverschuldeter psychiatrischer Erkrankung verwechselt. So fehlt während solcher relativen Ruhephasen im allgemeinen Bewusstsein, besonders dann, wenn das wirtschaftliche Wohlleben sich etabliert und seinen Zenit bereits überschritten hat, die Erkenntnis des Bösen, seiner Bedeutung und seiner Ursachen. In den Nationen des Wohlstands geht das Bewusstsein für die Nöte ärmerer Länder, die von ihren Machthabern unterdrückt werden, der Verfolgung und des Chaos dort, in aller Regel verloren. Sie werden ebenfalls als der Normalzustand betrachtet. Man denkt: „So ist nun mal die Welt, aber sie unterliegt einer Evolution des Fortschritts. Aus primitiven Anfängen roher Brutalität hat sie durch Vernunft, Verfeinerung der Sitten und Beseitigung von Irrtümern eine kultivierte Form angenommen.“ Diese Idee, wie überhaupt der Entwicklungsgedanke ist nicht neu. Schon Cicero vertrat derartige Auffassungen. Und die Menschen unserer Zeit denken noch außerdem: „Die Entwicklungsländer, in denen Gewalt und Chaos herrschen, sind eben nur noch nicht soweit wie wir, aber sie werden es eines Tages schon noch schaffen, denn der Mensch ist im Grunde gut und wird im Zuge fortschreitender Aufklärung und unter Verwendung moderner digitaler Techniken immer besser werden.!“ So denkt der Mensch der großen Masse und gibt den sogenannten „Entwicklungsländern“, um sein Gewissen zu beruhigen, eine Handvoll Almosen, die niemals ihre Empfänger erreichen, da die Mächtigen, die ihre Länder unterdrücken, diese Gelder an sich reißen und verbrauchen, nimmt ihnen aber mit der anderen Hand eine ganze Schaufel des größten Teils ihres Besitzes in der Gestalt unterbezahlt und billig produzierter Konsumgüter, ohne daran zu denken, welchen Faktoren er seinen Wohlstand zu verdanken hat.
Und so schläft die große Masse der Menschen am Strand des Weltgeschehens, gebannt in kleinliche Alltagssorgen, und versäumt es, auf die schäumenden Wogen des Meeres hinauszublicken, auf denen sich schreckenerregende Ungeheuer ankündigen.
Nun gibt es einige unbefangene Kinder, die den Schein der neuen kaiserlichen Kleider und das Herannahen der Ungeheuer wohl erkennen, aber sie suchen vergeblich ihre schlafenden Mütter zu wecken, deren Häupter sich bereits in stumme Fischköpfe verwandelt haben, die sie unfähig machen, in der freien Luft zu atmen.