»Zukunftsfamilie« zu Tisch, 1983, Ölpastell auf Ölpastellpapier
»Zukunftsfamilie« zu Tisch, 1983, Ölpastell auf Ölpastellpapier

Über die Zeit und den Aufbau des episodischen Gedächtnisses

Unsere episodischen Gedächtnisinhalte sind in diskrete Ereigniseinheiten gegliedert.

Das passive Gedächtnis des modernen Menschen ist fragmentiert, das aktive erfordert angestrengtes begriffliches Denken, was jedwede Manipulierbarkeit fördert.

Unsere episodischen Gedächtnisinhalte sind in diskrete Ereigniseinheiten gegliedert. Diese können aktiv, durch das bloße begriffliche Wissen um den Tatbestand, oder passiv, durch sinnliche Assoziationen, wiedererweckt werden. Die damit verbundene lineare Kette der wechselhaften sinnlichen Erlebnisse und Bewusstseinsinhalte wird dabei jedoch nicht wiedererstehen, es sei denn durch angestrengte begriffliche Rekonstruktion. Der Diskretheit der Ereignisse korrespondiert eine innere Kontinuität, die die menschliche Gedächtniskraft in den Einzelheiten nicht nachvollziehen kann. Wäre das möglich, würde das Bewusstsein vollständig in die vollzogene Zeit versinken und wäre darin aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit gefangen. Die lineare Zeit ist gerichtet. Allein während des tatsächlichen Durchgangs durch die Zeitreihe fühlen wir uns subjektiv frei. Eine Erinnerung, die uns nochmals in allen Einzelheiten durch diese Zeitreihe wandern ließe, könnte uns zur Qual werden, sofern zugleich ein kontrollierendes nachvollziehendes Bewusstsein zwangsläufig dabei im Spiel wäre. Unser Geist liebt es, in den Erinnerungen umher zu schweifen. Es wäre für ihn aber zu anstrengend, dabei an die lineare Kette der Ereignisse gebunden zu sein, wie sie im Einzelnen der Reihe nach abgelaufen sind. Wäre unser Gedächtnis so stark, dass wir dies vermöchten, so wären wir von dieser Ereigniskette sofort gefangengenommen und unwillkürlich mitgerissen, und zwar unter vergeblichem Widerstreben, das eine unerträgliche innere Spannung in uns erzeugen würde, und zwar deshalb, weil wir unser gegenwärtiges Bewusstsein, in dem wir das Vergangene bereits durchlebt haben, nicht einfach ablegen können, unser gegenwärtiges Bewusstsein ihm vielmehr in dem nochmaligen Durchlebt-Werden fortwährend Widerstand leistet. Unsere aktualisierenden Gedächtnisleistungen sind daher sehr begrenzt, da uns der Fluss der Erinnerungen sonst unwillkürlich mitreißen würde und wir kaum eine Möglichkeit hätten, ihm zu trotzen und für neue Eindrücke aufnahmefähig zu sein.
Nun ist es leider eine Tatsache, dass die allermeisten Menschen unserer Zeit ein sehr schlechtes episodisches Gedächtnis haben und sich kaum an detaillierte Teile ihrer eigenen Biographie erinnern können. Dies gilt nicht nur für schwer traumatisierte Menschen, die zur Dissoziation, zur Zerstückelung und Blockade von Erinnerungen, neigen, wie sie in neuerer Zeit immer häufiger vorkommen, sondern schon für scheinbar völlig normale Personen, die sich keiner belastenden Lebensereignisse bewusst sind. Wir müssen aber davon ausgehen, dass – besonders in unserer gegenwärtigen Kulturperiode – jeder Mensch auf die eine oder andere Weise traumatisiert ist und daher schon beinahe gewohnheitsmäßig, ohne es deutlich zu wissen, an dissoziativen Zuständen leidet. Es gibt Menschen, deren episodisches Gedächtnis nur bis ins neunte Lebensjahr zurückreicht, und die dergleichen für völlig normal halten. Und für die meisten Menschen scheinen bestimmte, ganz gewöhnliche Ereignisse des Erwachsenenalters dauerhaft ausgelöscht zu sein. Dies kann so weit gehen, dass sie sogar die Bekanntschaft mit bestimmten Personen und die Gespräche, die sie mit ihnen geführt haben, unwiderruflich vergessen können, selbst wenn sie diesen Personen mehrmals begegnet sind. Die Menschen unserer Zeit vergessen sehr schnell, nicht nur autobiografische Details, sondern insbesondere welthistorische und politische Ereignisse, die eigentlich vornehmlich dem semantischen Gedächtnis angehören sollten. Diese werden aus dem Bewusstsein verdrängt, da sie eine fortwährende Bedrohung bedeuten und die bequemen Abläufe ihres weltlichen Lebens stören würden, die sie um jeden Preis erhalten wollen. So sind dann Lernprozesse aus vergangenen Ereignissen nicht möglich.
Hitler, der ein eidetisches Gedächtnis besaß, das maßgeblich zu seinem Charisma beitrug, indem es seinen Mangel an tieferen Einsichten kompensierte und fundierte Kenntnisse simulierte, wie auch Goebbels, sein Propagandaminister, wussten dies nur zu gut. Sie hatten erkannt, dass die große Masse der Menschen aufgrund ihres schlechten Gedächtnisses leicht zu betrügen und zu manipulieren ist.