Wolf, 1996, Paintbrush-Computergrafik
Wolf, 1996, Paintbrush-Computergrafik

Sokrates als ein Erzieher zum Wissen

Das Nichtwissen des Sokrates ist ein völlig anderes als das vermeintliche Nichtwissen eines Menschen ohne philosophische Interessen, der, an seine Denkfaulheit und -furcht versklavt, den Satz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf sich selbst anwendet.

Wenn Sokrates davon sprach, dass er nur ein sicheres Wissen habe, nämlich dass er nichts wisse, dann war dies kein Eingeständnis völliger Unwissenheit, sondern der Grundsatz seiner dialektischen Methode der Erkenntnisgewinnung, der sich frei von Vorurteilen macht und jedes Phänomen in seinen Ursprüngen untersucht.

Wie alle Grundsätze der Wahrheitsfindung, so wurde und wird auch diese Methode von Unbefugten missbraucht, die nichts weniger im Sinn haben als die Liebe zur Weisheit. Wenn ein Mensch, der von Sokrates kaum mehr weiß, als seinen Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, diesen Satz auf sich selbst anwendet und sich dabei sogar furchtbar weise vorkommt, dann ist dieser Ausspruch in der Regel nur ein Alibi für Denkfaulheit oder – tiefer besehen – für Denkfurcht. Es gibt Menschen, die sich vor den Konsequenzen ihres Denkens in ein vermeintliches „Nichtwissen“ flüchten. Sie fürchten die Konsequenzen ihres Denkens. Denn diese könnten sie sehr erschrecken. Und da sie weder Strategien noch moralische Grundsätze haben, ihren Schrecken zu entgehen, schützen sie Unwissenheit vor. Diese vermeintliche, nur vorgeschützte Unwissenheit ist aber etwas völlig anderes als das methodische Nichtwissen des Sokrates, das am Anfang einer Untersuchung steht.
Es gibt zahlreiche in ihrer Kindheit subtil gekränkter oder missbrauchter Frauen, die sich in ihren „Schmerzkörper“ verhärtet haben, ständig bei Psychotherapeuten unterwegs sind und Rat suchen, aber doch – unter ständigen Begründungen und Ausflüchten – keinen Rat annehmen wollen, in der Meinung, sie „könnten“ es nicht. Die Frage ist aber, warum sie es denn nicht wollen. Und die Lösung des Problems besteht meist darin, dass sie, ohne sich darüber selbst im Klaren zu sein, eine Opferrolle angenommen haben, unter der sie die Welt durch ihre Schmerzen für die Ungerechtigkeit anklagen, die ihnen widerfahren ist. Dass dies so ist, muss aber wiederum geleugnet werden. Warum? Die Bezugspersonen, gegen welche die Anklage gerichtet ist, werden zugleich in emotionaler Abhängigkeit ambivalent geliebt und sollen daher nicht angeklagt werden. Der Ruf dieser Bezugspersonen, „Das waren doch durch und durch oder zumindest im Grunde gute Menschen gewesen“, darf nicht beschädigt oder geschmälert werden. Daher richten solche Frauentypen ihre Aggressionen gegen sich selbst. Dies ist besonders bei Frauen der Fall, deren zentrale Bezugspersonen, in der Regel der Vater, eine große Bedeutung für sie hatten, von denen sie sich aber im letzten Grunde nicht verstanden und alleingelassen fühlten und deren Leistungsansprüche sie nicht erfüllen zu können glaubten. Also tritt an dieser Stelle ein Selbstbestrafungsprozess in Kraft, der in der Einkörperung in den Schmerzkörper gipfelt. Derartig geprägte Charaktere beginnen in ihrer Ambivalenz und Sucht, sich selbst zu strafen, an allem zu zweifeln und rechtfertigen ihr vermeintliches Unvermögen oft mit dem Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Dieses scheinbar kluge Sokrates-Zitat soll sie vor weiterer Kritik ihrer Fehlhaltung schützen und diese damit verfestigen und begründen. Ein erster Schritt zur Lösung dieses Problems bestünde darin, die Fehler im Verhalten der wichtigen Bezugsperson, ohne zu verharmlosen oder zu entschuldigen, deutlich sehen zu können, und doch auch den Menschen in seiner Fehlbarkeit dahinter zu erkennen und seine Ideale zu hinterfragen. Der Zorn über die folgenschweren Fehlhaltungen der Bezugsperson muss ausgedrückt werden. Dann kann ein Verzeihen erfolgen, sofern bei der Bezugsperson keine bewusste Böswilligkeit vorlag, wie dies etwa bei schwerem Missbrauch der Fall wäre. Der Teufelskreis der emotionalen Abhängigkeit muss durchbrochen werden, und dies gelingt nur durch fortschreitende Einsicht und einen allmählichen Gesinnungswandel, der durch die Erarbeitung von Grundsätzen aufgebaut wird. Das Zitat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ lehnt solche Gesinnungsgrundsätze ab, um im Feld der Furcht und Selbstbestrafung zu beharren. Ob nun aber die Angst vor der Wahrheit und die mit ihrer Aufdeckung verbundene Notwendigkeit, sein Leben zu ändern, das Motiv ist oder das passiv-aggressive Beharrenwollen in der Opferrolle, aus der in der subjektiven Sicht allein noch ein Selbstwertgefühl geschöpft werden kann, in beiden Fällen gründet der Ausspruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, keineswegs in einer Demut vor dem Nichtwissen und im Bemühen um eine vorurteilsfreie Haltung gegenüber einem Phänomen, sondern vielmehr in der aggressiven Leugnung des Gewussten.